Das Wunder von Lima

Überraschend siegte bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen der sozialistische Kandidat — gegen das Estblishment des Landes und massive US-Interessen.

von Rubikons Weltredaktion

Es ist möglich, in Lateinamerika gegen eine eingesessene Herrscherdynastie und gegen die USA eine Wahl zu gewinnen. Bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen scheint alles auf einen Sieg des linken Kandidaten Pedro Castillo hinauszulaufen. Castillos Sieg ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er ein sozial denkender Lehrer und Sohn einer analphabetischen Bauernfamilie ist; seine Gegenkandidatin Keiko Fujimori hat auch weitaus mehr Geld in den Wahlkampf gesteckt als er. Mehr noch: Es gab auch eine gnadenlose Propagandaoffensive gegen ihn — so berichten es Medea Benjamin und Leonardo Flores von CodePink.

Medea Benjamin und Leonardo Flores

Der Landlehrer Pedro Castillo ist bereit, ein neues Kapitel in Perus Geschichte zu schreiben

Außenpolitisch wird Castillos Sieg einen schweren Schlag für die US-Interessen in der Region und einen wichtigen Schritt zur Reaktivierung der lateinamerikanischen Integration bedeuten.

Mit seinem breitkrempigen Bauernhut und dem überdimensionalen Lehrerstift in der Hand ist Pedro Castillo durchs Land gereist, um die Wähler aufzufordern, sich einem Aufruf anzuschließen, der während der verheerenden Pandemie besonders dringlich ist: „No más pobres en un país rico“ — Keine armen Menschen mehr in einem reichen Land.

In einer spannungsgeladenen Wahl mit einem riesigen Stadt-Land- und Klassengefälle sieht es so aus, als sollte der Landlehrer, Farmer und Gewerkschaftsführer Geschichte schreiben, indem er die mächtige rechtsextreme Kandidatin Keiko Fujimori, Spross der politischen „Fujimori-Dynastie“ des Landes, mit weniger als einem Prozent besiegt.

Fujimori zweifelt das Wahlergebnis an und spricht von weitverbreitetem Wahlbetrug. Ihr Wahlkampfteam konnte nur Beweise vereinzelter Unregelmäßigkeiten vorlegen, und bis jetzt gibt es nichts, was auf eine manipulierte Wahl hindeutet. Allerdings kann sie einige Stimmen anfechten, um das endgültigen Ergebnis zu verzögern, und ähnlich wie in den USA wird auch ein Betrugsvorwurf des unterlegenen Kandidaten für Unsicherheit sorgen und die Spannungen im Land erhöhen.

Castillos Sieg ist nicht nur deshalb bemerkenswert, dass er ein linker Lehrer und Sohn analphabetischer Bauern ist und seine Gegnerin Fujimori bei Weitem mehr Geld in den Wahlkampf gesteckt hat als er, sondern weil es eine gnadenlose, an historische Ängste von Perus Mittelklasse und Eliten anknüpfende Propagandaoffensive gegen ihn gab. Es war ähnlich wie kürzlich bei dem progressiven Kandidaten Andrés Arauz, der die Präsidentschaftswahlen in Ecuador knapp verlor, aber noch intensiver.

Der Grupo El Comercio, ein Medienimperium, der 80 Prozent von Perus Zeitungen kontrolliert, führte die Angriffe auf Castillo an. Sie bezichtigten ihn, ein Terrorist mit Verbindungen zum „Leuchtenden Pfad“ zu sein — einer Guerillaorganisation, deren Konflikt mit dem Staat zwischen 1980 bis 2002 zu Zehntausenden Toten geführt und die Bevölkerung traumatisiert hat.

Doch Castillos Verbindung zum Leuchtenden Pfad ist sehr fadenscheinig: Als einer der Führer der Bildungsgewerkschaft Sutep soll Castillo gute Beziehungen zur Bewegung für Amnestie und Grundrechte Movadef gepflegt haben, einer Gruppe, die angeblich der politische Flügel des Leuchtenden Pfades war. In Wirklichkeit war Castillo selbst ein Rondero, als der Aufstand seinen Höhepunkt erreichte. Ronderos waren bäuerliche Selbstverteidigungsgruppen, die ihre Dörfer vor der Guerilla schützten und auch heute noch für Sicherheit vor Gewalt und Kriminalität sorgen.

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Der Wahlzettel für die Stichwahl (Cheep, CC BY-SA 4.0, Wikimedia Commons).

Zwei Wochen vor den Wahlen, am 23. Mai, wurden in der ländlichen Stadt San Miguel del Ene 18 Menschen massakriert. Die Regierung machte sofort die Überreste des Leuchtenden Pfades, die in den Drogenhandel verwickelt sind, verantwortlich, obwohl sich bis jetzt keine Gruppe zu dem Anschlag bekannt hat. Die Medien brachten den Angriff mit Castillo und seinem Wahlkampfteam in Verbindung und schürten Ängste vor weiterer Gewalt, sollte er die Präsidentschaft gewinnen. Castillo verurteile den Angriff und erinnerte daran, dass es im Vorfeld der Wahlen 2011 und 2016 zu ähnlichen Massakern gekommen war. Fujimori ihrerseits legte nahe, dass eine Verbindung Castillos zu den Morden bestehe.

An der Wirtschaftsfront wurde Castillo bezichtigt, ein Kommunist zu sein, der Schlüsselindustrien verstaatlichen wolle und der Peru in eine „grausame Diktatur“ wie Venezuela verwandeln würde. Werbeplakate entlang Limas Hauptverkehrsader fragten die Bevölkerung: „Würden Sie gern in Kuba oder Venezuela leben?“ mit Bezug auf einen Sieg von Castillo.

Zeitungen brachten Castillos Wahlkampf mit der Entwertung der peruanischen Währung in Zusammenhang und warnten, dass ein Sieg Castillos vor allem die Einkommensschwachen am meisten treffen würde, weil Unternehmen schließen oder ins Ausland abwandern würden. Immer und immer wieder musste Castillos Team klarstellen, dass er kein Kommunist sei und nicht vorhabe, Industrien zu verstaatlichen, sondern vielmehr die Verträge mit den Multis neu auszuhandeln, sodass ein größerer Teil der Gewinne den lokalen Gemeinden bleibt.

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Peruanische Zeitung, die Angst vor Castillos Einfluss auf die Währung verbreitet (Marco Teruggi, @Marco_Teruggi).

Gleichzeitig wurde Fujimori von den Medien während des Wahlkampfes mit Samthandschuhen angefasst. So behauptete beispielsweise die oben abgebildete Zeitung, dass „Keiko Arbeit, Essen, Gesundheit und eine sofortige Reaktivierung der Wirtschaft garantiert“.

Ihre Vergangenheit als First Lady während der brutalen Herrschaft ihres Vaters Alberto Fujimori wird von den Konzernmedien weitgehend ausgeblendet. So kann sie weiter behaupten, dass „der Fujimorismo den Terrorismus besiegt hat“, ohne auf die Schrecken angesprochen zu werden, die der Fujimorismo in Peru angerichtet hat, darunter die Zwangssterilisation von mehr als 270.000 Frauen und 22.000 Männern (1), für die ihr Vater vor Gericht steht. Zurzeit sitzt er wegen anderer Menschenrechtsverletzungen und Korruption im Gefängnis, doch Keiko hat versprochen, ihn im Falle ihres Sieges freizulassen.

Ebenso verschweigen die Medien die Tatsache, dass Keikos seit vorigem Jahr gegen Kaution auf freiem Fuß ist, da gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche läuft — ohne präsidiale Immunität wird sie wahrscheinlich im Gefängnis landen.

Die internationalen Medien unterschieden sich nicht in der unausgewogenen Berichterstattung über Castillo und Fujimori. So warnte zum Beispiel Bloomberg, dass „die Eliten zittern“ beim Gedanken an Castillo als Präsident und die Financial Times titelte: „Perus Elite in Panik bei der Aussicht auf einen Sieg der Linksextremen bei den Präsidentschaftswahlen.“

Perus Wirtschaft ist in den vergangenen 20 Jahren eindrucksvoll gewachsen, aber dieses Wachstum hat nicht „alle Boote angehoben“ (2). Millionen von Peruanern in ländlichen Gebieten wurden vom Staat im Stich gelassen. Hinzu kommt, dass Peru, ähnlich wie viele Nachbarländer — so zum Beispiel Kolumbien, Chile und Ecuador —, zu wenig in das Gesundheitswesen, die Bildung und andere Sozialprogramme investiert hat. Das Gesundheitssystem wurde derart geschwächt, dass Peru nun bei den Pro-Kopf-Covid-19-Todesfällen die ganze Welt anführt.

Zusätzlich zu dem Gesundheitsdesaster haben die Peruaner viele politische Turbulenzen erlebt, die durch eine außergewöhnliche Anzahl von Korruptionsfällen auf höchster Ebene und vier Präsidenten in drei Jahren gekennzeichnet sind. Fünf der letzten sieben Präsidenten waren mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Im Jahr 2020 wurde Präsident Martin Vizcarra ebenfalls der Korruption beschuldigt, angeklagt, abgesetzt und durch Manuel Merino ersetzt. Doch dieses Manöver wurde als parlamentarischer Putsch angeprangert, was zu mehrtägigen massiven Straßenprotesten führte. Nur fünf Tage nach seinem Amtsantritt trat Merino zurück und wurde durch den derzeitigen Präsidenten Francisco Sagasti ersetzt.

Eines von Castillos wichtigsten Wahlversprechen ist die Einberufung eines Verfassungsreferendums, um das Volk entscheiden zu lassen, ob es eine neue Verfassung will oder die aktuelle, die 1993 unter dem Regime von Alberto Fujimori entstand und den Neoliberalismus in ihrem Rahmen verankert, beibehalten möchte (3).

„Die aktuelle Verfassung priorisiert private Interessen über öffentliche Interessen, Profit über Leben und Würde“, steht in seinem Regierungsplan. Castillo schlägt vor, dass eine neue Verfassung Folgendes beinhaltet: Anerkennung und Garantien für das Recht auf Gesundheit, Bildung, Nahrung, Wohnung und Internetzugang; Anerkennung der Indigenen und der kulturellen Vielfalt Perus; Anerkennung der Rechte der Natur; Neugestaltung des Staates mit Fokus auf Transparenz und Bürgerbeteiligung und eine Schlüsselrolle für den Staat in der strategischen Planung, um das Primat des öffentlichen Interesses sicherzustellen.

Außenpolitisch bedeutet Castillos Sieg einen schweren Schlag gegen die US-Interessen in der Region und einen wichtigen Schritt zur Reaktivierung der lateinamerikanischen Integration.

Er hat versprochen, Peru aus der Lima-Gruppe zurückzuziehen, einem Zweckbündnis von Ländern, die sich für einen Regimewechsel in Venezuela einsetzen.

Darüber hinaus hat seine Partei „Peru Libre“ den Ausschluss von USAID (4) und die Schließung der US-Militärbasen im Land gefordert. Castillo hat seine Unterstützung für ein Gegengewicht zur OAS (5) bekräftigt und will sowohl die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) als auch die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) stärken. Sein Wahlsieg ist auch ein gutes Omen für die Linke in Chile, Kolumbien und Brasilien, wo in den nächsten eineinhalb Jahren jeweils Präsidentschaftswahlen anstehen.

Castillo steht vor einer gewaltigen Aufgabe mit einem feindlichen Kongress, einer feindlichen Klasse von Geschäftsleuten, einer feindlichen Presse und höchstwahrscheinlich einer feindlichen Biden-Administration. Die Unterstützung durch Millionen wütender und mobilisierter Peruaner, die Veränderungen fordern, wird zusammen mit internationaler Solidarität der Schlüssel zur Erfüllung seines Wahlversprechens sein, den Bedürfnissen der ärmsten und vernachlässigtesten Teile der peruanischen Gesellschaft zu ihrem Recht zu verhelfen.


Medea Benjamin, Mitgründerin der Menschenrechtsgruppe Global Exchange und Mitgründerin von CodePink — Frauen für den Frieden, ist seit mehr als 40 Jahren eine Verfechterin der sozialen Gerechtigkeit. Als „eine der profiliertesten Anführerinnen der Friedensbewegung“ war sie eine von 1.000 normierten Frauen aus 140 Ländern, um den Friedensnobelpreis stellvertretend für die Millionen von Frauen zu erhalten, die weltweit die unverzichtbare Arbeit für den Frieden leisten. Als Autorin veröffentlichte sie mehrere Bücher, darunter: „Inside Iran“ und „Drone Warfare: Killing by Remote Control“.

Leonardo Flores ist Koordinator der Lateinamerika-Kampagne von CodePink. Er hat einen Bachelor-Abschluss in Philosophie von der University of Maryland und er brach ein Master-Programm an der University of Maryland School of Public Policy ab, um als Analyst für die Beziehungen zwischen den USA und Venezuela zu arbeiten. Leonardo wurde in Venezuela geboren und unterhält enge Verbindungen zu sozialen Bewegungen, die das Land in den letzten zwanzig Jahren verändert haben.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien am 8. Juni 2021 unter dem Titel „Rural Teacher Pedro Castillo Poised to Write a New Chapter in Peru’s History bei Common Dreams. Er wurde von Christoph Hohmann aus dem ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.

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